„Man zwingt einen Menschen nicht, im Stehen zu essen!“ – Diese Aussage seiner Mutter auf die Frage hin, warum sie einen kriegsversehrten, verwahrlosten und ausgehungerten Mann, der ihr an der Haustüre Nähgarn verkaufen wolle, an den heimischen Esstisch geladen habe, begleite ihn bis heute. „Sie hätte ihm auch eine Stulle in die Hand drücken und die Tür schließen können“, so Franz Müntefering. „Aber das kam für sie nicht in Frage.“ Dies habe seine eigene Definition des Begriffs „Respekt“ geprägt, der zwar immer auch eine gewisse Distanz mit sich bringe, aber auch untrennbar mit Nächstenliebe verbunden sei. „Und das ist gerade auch so wichtig für unsere und die kommende Zeit. Unsere Demokratie ist auf Respekt angewiesen.“
Der Gesprächsabend mit dem ehemaligen SPD-Politiker Franz Münterfering, zu dem die Initiative „Respekt tut gut“ am Mittwochabend in die Kirche St. Marien eingeladen hatte, lieferte viel Inspiration zum Thema „Demokratie braucht Respekt“ und stieß auf sehr große Resonanz. Moderiert von Journalistin Dr. Felicitas Bonk und musikalisch wunderbar untermalt von Dorothea und Christa Zurhove an Violoncello und Klavier, legte Müntefering in gewohnt pointierter und sympathischer Weise seine Sichtweise und Erfahrungen rund um das Thema dar, das vor allem auch im Hinblick auf den folgenden Tag der deutschen Einheit von großer Wichtigkeit ist. „Denn auch nach 35 Jahren verspüren viele Menschen in Ostdeutschland noch eine gewisse Distanz, nicht selten auch ein Gefühl der Benachteiligung“, so Franz Müntefering. Erich Honecker sei seinerzeit für die Westdeutschen keine Respektsperson gewesen, was man, mutmaßte Müntefering, vielleicht zuweilen auch unbewusst auf alle Ostdeutschen übertragen habe. Und nicht zuletzt habe man in den Folgejahren quasi das westliche System Ostdeutschland überstülpen wollen. Dies alles sei bis heute spürbar – und vielleicht seien die Landtagswahlergebnisse auch eine Reaktion auf genau diesen Umstand gewesen.
„Doch wir werden die Herausforderungen der Zukunft nur stemmen können, wenn wir zusammenhalten und uns gegenseitig respektieren“, so der 84-Jährige. Das gelte auf nationaler Ebene wie auch für Europa – und letztlich für die ganze Welt. „Im Jahre 2050 werden wir zehn Millionen Menschen auf der Erde haben. Und ja, es wird genug für alle da sein. Wenn wir gemeinsam dafür sorgen, dass sich die Menschen in allen Ländern selbst versorgen können.“
"Heute würden weniger Staaten der UN-Menschenrechtserklärung zustimmen"
Müntefering erinnerte an die Erklärung der Menschenrechte durch die UN am 10. Dezember 1949. Dieser hätten damals fast alle beteiligten Staaten zugestimmt – „heute wären es sicher weniger“. Umso mehr gelte es, gerade jetzt die Fahne der Demokratie hochzuhalten. Und das sei ohne Respekt nicht möglich. Respekt, das bedeute für ihn: Den anderen so nehmen, wie er ist. Ihn wertschätzen. Andersartigkeit akzeptieren. Aber auch Meinungsverschiedenheiten zulassen und Konkurrenz aushalten.
Eben dies habe ihn sein Elternhaus gelehrt – durch für ihn vorbildliches Verhalten, aber auch durch das Gegenteil. Als 1946 kriegsvertriebene Schlesier in seinen Heimatort gekommen seien, wurde darauf geachtet, dass man unter sich blieb. Für die Kinder richtete man sogar eigene Schulräumlichkeiten ein – „denn die konnten ja als Evangelische auf keinen Fall mit auf unsere katholische Dorfschule gehen!“ Doch die Kinder mochten sich, spielten Fußball zusammen, „und es waren auch hübsche Mädchen dabei“, schmunzelt Müntefering. Als er mit 16 seine erste Freundin hatte, meinte seine Eltern nur: „Hauptsache, sie ist nicht evangelisch!“ Sogar seine Mutter. Und das sei eine Art der Intoleranz gewesen, die er für sich sofort ausgeschlossen habe.
Auf die Frage von Michael Ostholthoff hin, wie er den oft wenig respektvollen Umgang der heutigen Politiker im Bundestag einordne, erklärte Müntefering: „Da gab es schon ganz andere Zeiten. Bei uns damals im Bundestag ging es nicht weniger heftig zur Sache. Aber wo unterschiedliche Meinungen aufeinanderstoßen, wird es eben auch manchmal laut. Und das ist in Ordnung, solange gewisse Regeln eingehalten werden.“
Großer Applaus begleitete den ehemaligen Bundespolitiker zum Abschluss auf die Bühne bzw. das Altarpodest, wo er von Michael Ostholthoff einen Präsentkorb mit Halterner Spezialitäten überreicht bekam. „Haltern kenne ich tatsächlich noch gut von früheren Besuchen“, bestätigte Müntefering. In den nächsten Tagen wird er noch in einigen weiteren Städten zu Gesprächen zu Gast sein. Und natürlich steht für den Wahl-Berliner auch noch ein Besuch in der sauerländischen Heimat an.
Ein gemeinsames „Wir wünschen Frieden für alle“ beendete einen gelungenen Gesprächsabend in der Kirche St. Marien – und natürlich stand Franz Müntefering im Anschluss gern noch zum Signieren seiner Bücher am Stand der Buchhandlung Kortenkamp und für das eine oder andere Foto zur Verfügung.