"Organisierte Perspektivlosigkeit": So fasst Benedikt Kern zusammen, was er auf seiner Recherchereise für das Ökumenische Netzwerk Asyl in der Kirche NRW in zwei Aufnahmelagern in Bulgarien erlebte. Am 12. Dezember berichtete der Münsteraner Theologe und Politikwissenschaftler in der Sixtus-Kirche davon.
Die Reise in das südosteuropäische Transitland fand im September 2024 gemeinsam mit dem Geschäftsführer von Pro Asyl und einer Journalistin der Süddeutschen Zeitung statt. "Wir sind ohne jeden Vorbehalt nach Bulgarien gereist", bestätigt Benedikt Kern. "Aber die Ergebnisse unserer Recherche waren erschütternd."
Das Team habe dabei drei verschiedene Konstellationen untersucht: Wie ist die Situation für Dublin-Rückkehrer, deren Asylverfahren nach Ausreise in Bulgarien eingestellt wurde? Wie ist die Lebenssituation für in Bulgarien bereits Anerkannte? Und schließlich: Welche Perspektive haben abgelehnte Asylbewerber?
Benedikt Kern begann seinen Bericht vor dem interessierten Publikum, das sich im Ausstellungsbereich der Pfarrkirche zusammengefunden hatte, mit Bildern von der 600 Kilometer langen EU-Außengrenze zwischen Bulgarien und der Türkei. An dieser "endlos langen Schlange aus Stacheldraht", die in einem riesigen Naturschutzgebiet ohne jegliche Infrastruktur liege, komme es immer wieder zu massiver Gewalt gegen Flüchtlinge, die versuchen, in die EU zu gelangen. "Viele von ihnen erfahren bis zu 25mal sogenannte Pushbacks. Wir haben Menschen mit Schussverletzungen an Armen und Beinen getroffen." Und allein 2023 habe es laut der NGO "Mission Wings" über 50 Todesfälle gegeben, die der bulgarische Grenzschutz und die europäische Grenzschutzagentur Frontex zu verantworten haben. "Auf türkischer Seite ist die Zahl vermutlich noch höher."
Alle Flüchtlinge, die den Grenzübertritt geschafft hätten, würden ausnahmslos gewaltsam inhaftiert und im geschlossenen Zentrum bis zu 14 Tage zur Registrierung festgehalten. Anschließend kämen sie in ein offenes Aufnahmezentrum, etwa in der Hauptstadt Sofia oder in Harmanli im Süden des Landes - "diese Lager haben wir besucht", so Kern. "Hier leben dann 30 bis 40 Menschen in einem Raum, nachts ist kein Toilettengang möglich, und es kommt zu massiver Gewalt durch das Wachpersonal - und auch durch Schlepper, ohne die ein Grenzübertritt so gut wie unmöglich ist und bei denen sich die Flüchtlinge mit 4000 bis 5000 Euro verschulden."
Gefrorenes Brot zur Disziplinierung
Die Versorgung mit Nahrungsmitteln sei sehr schlecht, es gebe kaum Obst, Gemüse oder Milchprodukte, da das gesetzlich festgelegte Budget pro Person lediglich drei Euro betrage - auch in einem Land wie Bulgarien extrem wenig. Es komme zu Mangelernährung. "Das Trinkwasser stammt aus einem Brunnen, der direkt neben einer Müllkippe steht - es wurde neben anderen Verunreinigungen bereits eine Uranbelastung des Wassers festgestellt", berichtet Kern. Die Lebensmittel würden durch viel zu wenig Personal in kleinen Rationen ausgegeben, Jugendliche erhalten "zur Disziplinierung" oft gefrorenes Brot, "damit sie vor Hunger nicht sofort alles aufessen".
Toiletten und Duschen würden gemischtgeschlechtlich genutzt und hätten teils keine Tür, seien verdreckt und baufällig. Oft gebe es Probleme mit Bettwanzen und Krätze, eine dermatologische Sprechstunde finde alle zwei Wochen statt - für über 800 Menschen. Es bestehe so gut wie keine Möglichkeit, einen Facharzt oder ein Krankenhaus aufzusuchen.
Wessen Asylantrag bewilligt werde, der habe 14 Tage Zeit, sich eine Wohnung zu suchen und das Aufnahmezentrum zu verlassen. "Das scheitert oft an bürokratischen Hürden für potenzielle Vermieter", so Benedikt Kern. "Ohne Wohnung gibt es aber keine Meldeanschrift, und ohne Meldeanschrift gibt es keinen Personalausweis. Viele Flüchtlinge leben in extrem überbelegten Wohnungen - oder sind obdachlos."
Krankenversicherung nur auf dem Papier
Eine günstige Krankenversicherung gebe es zwar, allerdings müsse man sich bei einer Hausarztpraxis akkreditieren - diese böten aber wegen der hohen Fluktuation bei den Migranten keine freien Plätze an. "Der Krankenversicherungsschutz besteht also nur auf dem Papier."
Ähnlich sehe es auch beim Zugang zum Arbeitsmarkt aus. Dieser sei für Anerkannte zwar prinzipiell möglich; da Ausländer in Bulgarien jedoch aus Gründen der EU-Geldwäscheprävention in der Regel kein Bankkonto eröffnen dürften, könnten sie oftmals keine festen Arbeitsverhältnisse eingehen. So bleibe nur die Schwarzarbeit.
"Bulgarien betreibt eine Null-Integrations-Politik, die von der EU gebilligt wird", hält Benedikt Kern fest. "Man setzt alles daran, dass Bulgarien ein Transitland bleibt und die Menschen hier keine Perspektive haben."
Und was passiert mit abgelehnten Asylbewerbern? "Die kommen für anderthalb Jahre in eine Art Abschiebehaft und werden dann vor die Tür gesetzt", schildert der Referent die erwartbaren Folgen.
Zu kritisieren seien bei alledem nicht nur die bulgarischen Behörden, da diese letztlich im Interesse der EU mit dem Außengrenzschutz-Management befasst seien", so Kern. "Unsere Kritik gilt in erster Linie den Entscheidungen des BAMF und der deutschen Verwaltungsgerichte, die vor der strukturell entwürdigenden Behandlung von Dublin-Rückkehrern in Bulgarien die Augen verschießen - und sie damit mittragen, anstatt Abschiebungen dorthin auszusetzen."
"Abschiebungen nach Bulgarien führen Menschen in die Verelendung"
In BAMF-Bescheiden oder Gerichtsentscheidungen sei häufig von einem grundsätzlichen Zugang Geflüchteter in Bulgarien zu Unterkunft, Gesundheitsversorgung, Arbeit, Rechtsmitteln, Bildung et cetera die Rede. Deshalb seien Dublin-Überstellungen bedenkenlos möglich, es gälten lediglich andere soziale Standards als in anderen EU-Staaten. "Unsere Recherche belegt, dass dies nicht oder nur sehr eingeschränkt der Fall ist. Abschiebungen nach Bulgarien führen Menschen in die Verelendung. Bett, Brot und Seife - die Mindestanforderungen für geflüchtete Menschen - sind in Bulgarien definitiv nicht der Standard. Und es ist EU-Räson, dass es so ist, wie es ist. Wenn die EU wollte, hätte sie alle Möglichkeiten für bessere Verhältnisse."
Er und sein Rechercheteam schrieben gerade an einem juristisch verwertbaren Bericht, der im Januar nach Berlin gehen solle, berichtet Kern. "Dass wir damit Erfolg haben werden, ist wohl eher unwahrscheinlich."
Mehr über die Erfahrungen des Teams in Bulgarien lesen Sie auf www.kirchenasyl-nrw.de